Supply-Chain-Management in der Praxis (Teil 1) Strategien in der Multikrise

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Beim Einkauf gibt es keine „One-fits-all-Lösung“: Hoteliers müssen stets situationsbezogen und auf den Betrieb zugeschnitten agieren. © AdobeStock/j-mel

Einkaufsmanagement und digitalisierte Warenwirtschaft sind im Hotel-Business entscheidender denn je. Wie Hoteliers sich jetzt am besten aufstellen, erläutert Gastautor Jochen Oehler von Progros im ersten Teil unserer neuen Serie.

Kostendruck, Produktengpässe, gestörte Lieferketten, quantitativer als auch qualitativer Bedarf an Mitarbeitenden, immer anspruchsvollere Gäste und weniger Zeit – so ist die Lage derzeit. Die Hotellerie steht vor Multi-Herausforderungen – und das in einer Multikrisen-Zeit. Und jetzt? Die allgemeine Teuerung liegt bei knapp neun Prozent; die Energiekosten stiegen laut Statistischem Bundesamt zwischen Januar 2022 und Januar 2023 um 62 Prozent.

Die Teuerung der 44 am meisten gekauften Non-Food- und Food­artikel in der Hotellerie belief sich im Jahresvergleich auf 28,4 Prozent. In der Spitze bei einzelnen Produkten wie Folien und Verpackungsmaterial stiegen die Preise sogar um 58 Prozent, so das Ergebnis des Progros Preis Index.

Die Kostensprünge, die die Betriebsergebnisse von Hotels deutlich belasten, sind das eine. Hinzu gesellen sich neben weiterhin vereinzelt bestehenden Störungen der Lieferketten auch die neuerlichen ESG-Anforderungen (Kasten unten) im B2B-Bereich: Hoteliers müssen dokumentieren, dass ihre Beschaffung die ESG-Kriterien erfüllt. Ansonsten gibt es keine Firmenbuchungen mehr. Und wäre das alles nicht genug, steht die Hotellerie vor einer weiteren Herausforderung: dem quantitativen wie auch qualitativen Personalbedarf.

ESG-Kriterien

ESG steht für Environmental (Umwelt), Social (Soziales) und Governance (verantwortungsvolle Unternehmensführung). Immer mehr Firmenkunden erwarten von Hotels, dass sie die ESG-Kriterien erfüllen und dokumentieren können. Werden sie nicht erfüllt, besteht die Gefahr, dass man bei Buchungen nicht mehr berücksichtigt wird. Hotels müssen sich auf diese Entwicklung zeitnah einstellen. Dies erhöht sowohl den administrativen Aufwand als auch den Kompetenzbedarf im Beschaffungsmanagement.

Und das Ernüchternde: Es existiert kein Allheilmittel, keine Wunderlösung, die diese multiplen Challenges löst. Es gibt schon deswegen keinen „Gold-Standard“, weil sich die meisten Hotels zum Teil deutlich voneinander unterscheiden: A-, B- oder C-Standort, Gäste-Mix, Betriebskonzept & Marketingstory, Gebäudegröße, -struktur und -alter, Budget- oder Luxushotel – das sind einige Faktoren, weshalb eine „One-fits-all-Strategie“ nicht greift.

Strategien fangen immer mit Fragen an. Fragen, die man mit allen am Einkauf beteiligten Personen aus dem Managementteam klären muss (siehe Kasten unten). Aus der Beantwortung der Fragen können im Ergebnis sehr schnell Ziele und Maßnahmen abgeleitet werden, um Kostendruck, Produktengpässen, gestörten Lieferketten oder auch qualitativem und quantitativem Bedarf an Mitarbeitenden zu begegnen.

Strategiefragen für den Einkauf

Was kaufe ich?

  • Mein Angebot – was brauche ich wirklich und was bringt mir Rendite?
  • Make or Buy – was und wie viel muss ich selbst machen?
  • Sortimente – was kann ich standardisieren und wie viel?

Wie viel kaufe ich?

  • Mengen – wie viel benötige ich wirklich – inklusive „eiserner Bestand“ (Sicherheit)?
  • Ressourcen – wie kann ich möglichst viel aus dem machen, was ich einkaufe?
  • Hardware – welche Gegebenheiten muss/kann ich eventuell anpassen?

Wann kaufe ich?

  • Sensibilität entwickeln für Preisentwicklung, Verfügbarkeit, Lieferzeiten und Lieferrhythmen.

Wer macht was?

  • Kompetenzen – wer hat die beste Kompetenz, einzukaufen (von wem wird zu welchen Konditionen gekauft und wer verhandelt)?
  • Bestellung – wer sollte bestellen (nach Vorgaben, wann und wie viel)?
  • Einkauf & Bestellung – wo und in welchen Bereichen könnte eine Trennung sinnvoll oder sinnlos sein?
  • Einkaufskompetenzen ausbauen (Kalkulation, Verhandlung, Prozesse, Digital).

Wie organisieren?

  • Wie laufen unsere Prozesse am ­optimalsten ab (Organisation, Auswahl, Verhandlung, Bestellweg, Waren­annahme, Lager­verwaltung, ­Abrechnung, ­Controlling)

Wertschöpfungstiefe sinkt, Einkaufskosten steigen

Mit dem derzeitigen Grundverständnis, das wir in der Hotellerie haben und mit dem wir uns in der Regel – insbesondere im Einkauf – von einem Tag auf den nächsten „retten“, kommen wir bei den momentanen und zukünftigen Herausforderungen nicht weiter. 30 Prozent des Umsatzes eines Hotels entfallen laut der „Guess’22“-Einkaufsstudie der Hochschule Heilbronn auf direkte Einkaufskosten.

Die Wertschöpfungstiefe liegt demnach derzeit bei 70 Prozent. Sie wird weiter sinken, weil wir – auch als Antwort auf Kostendruck und Personalmangel – immer mehr Dienstleistungen sowie Produkte zukaufen, anstatt sie selbst zu erbringen oder zu produzieren. Deshalb werden die Einkaufskosten – auch ohne Inflation – in den meisten Hotels weiter steigen, weil eben die Wertschöpfungstiefe sinkt.

Das neue Zauberwort: Einkauf 3.0

Die Hotellerie braucht im Einkauf, der für das Betriebsergebnis eines Hotels eine immer wichtigere Rolle spielen wird, frühzeitig die Einleitung eines Transformationsprozesses. Gemeint ist die Transformation weg vom Einkauf 2.0 hin zum Einkauf 3.0. Der Einkauf 2.0 ist, wenn auch weitgehend organisiert und bereits in Grundzügen technologisiert, meist nach wie vor sprunghaft und von kurzfristig getriebener Beschaffung geprägt.

Der Einkauf 2.0 muss sich zum Einkauf 3.0 entwickeln und damit zu einem strategischen und hochdigitalisierten Supply-Chain-Management wandeln: also dem gesteuerten, überlegten und digitalisierten Management von Sourcing, dem Design des Lieferantenportfolios, der operativen Beschaffung, dem Storageing als auch aller weiteren damit in Verbindung stehenden kaufmännischen Prozesse (Commerce Processes).

Einkauf 3.0 ist hierbei nur die Vorbereitung auf Einkauf 4.0 – nämlich die Automatisierung nahezu aller operativen Prozesse sowie der Vernetzung verschiedener Systeme im Hotel, Stichwort Internet of Things (IoT).

Der Experte: Jochen Oehler

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Der Experte im ersten Teil zum Thema Supply-Chain-Management: Jochen Oehler. - © Progros

Jochen Oehler ist Strategie- & Marketingvorstand der Dehag Hospitality Group AG sowie Geschäftsführer der auf Supply-Chain-Management spezialisierten Progros.

Er hat einen Lehrauftrag an der Hochschule Heilbronn für den Bereich Supply-Chain-Management und ist Verfasser mehrerer Veröffentlichungen zu Einkauf, Digitalisierung und Prozessoptimierung. 2017 erschien sein Buch „Macht Einkauf – Powerstrategien für modernes Einkaufsmanagement in der Hotellerie“.