Sandra Linder im #Monotalk Fehlerkultur leben und als Chance nutzen

Sandra Linder
Sandra Linder ist Berufspilotin und hält Seminare über Fehlerkultur. © Thorsten Jochim

Wie können sich Unternehmen mit einer positiven Fehlerkultur selbst verbessern? Welche Rolle spielt dabei die Haltung der Vorgesetzten? Und wie kann der richtige Umgang mit Fehlern und Versäumnissen einen erheblichen Teil zur Stressprävention im Unternehmen beitragen? Das erklärt Berufspilotin Sandra Linder im Interview mit Tophotel.

Tophotel: Frau Linder, Sie sind Berufspilotin bei einer großen Fluggesellschaft und trainiert auf den A380, das größte zivile Verkehrsflugzeug der Welt. Neben Ihrem 'Fliegeralltag' beschäftigen Sie sich mit den Themen Sicherheit und Fehlerkultur, coachen Kollegen und halten Vorträge. Was machen Sie da genau?
Sandra Linder: Unsere Aufgabe ist, Risiken und Fehlerquellen im täglichen Flugbetrieb zu identifizieren und zu analysieren. Wir betrachten Erfahrungen von Kollegen und fragen: Was ist passiert, was können wir daraus lernen, wie unsere Verfahren verbessern? Welche Prozesse können wir praxistauglicher gestalten? Dabei konzentrieren wir uns einerseits auf die Technik. Andererseits gilt das besondere Augenmerk dem 'Faktor' Mensch, der im Ernstfall den Unterschied machen kann, der gerade in Stressmomenten klare Entscheidungen treffen muss. Seine Professionalität zu stärken ist das Ziel aller sicherheitsrelevanten Prozessoptimierungen. Durch die Veröffentlichung der Analysen und Ergebnisse stellen wir sicher, dass alle Kollegen auf dem neuesten Sicherheitsstand sind.
Sie betrachten und analysieren also Vorfälle, die im täglichen Flugbetrieb passieren?
Richtig. Es geht um 'echte' Vorfälle: Oft sind es Ereignisse, bei denen Kollegen im Nachgang denken: Das hätte auch anders ausgehen können. Oder: Was war eigentlich die Ursache? Die Kollegen haben ein präzises Gespür für Schwachstellen und verbesserungswürdige Prozesse. Sie teilen uns ihre Beobachtungen mit. Danach beginnt die akribische Analyse, das Ausmachen der Faktoren, die beispielsweise zu einem Fehler beigetragen haben. In der Luftfahrt ist es selten eine einzige Ursache, es sind oft Fehlerketten, die letzlich zu einem größeren Scheitern führen. Es gibt Forschungen, die besagen, dass bei 80 Prozent der Vorfälle die mangelhafte Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt.

Wir arbeiten im Cockpit in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre. Das schafft enormen Freiraum, um konzentriert an der Sache zu arbeiten.

Das heißt, Ihre Arbeit für die Sicherheit basiert auf einer offenen Haltung Ihrer Kollegen gegenüber Fehlern?
Fehlervermeidung funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Entscheidend ist, richtig mit Fehlern umzugehen. Gerade in der Luftfahrt ist es sehr wichtig, aus Fehlern zu lernen. Und nicht zu schweigen, sodass andere dieselben Fehler wiederholen. Dies kann es nur in einer Umgebung geben, in der sich Menschen einander anvertrauen können – ohne Angst vor einer 'Strafe'. Das ist kein Freibrief, nachlässig zu werden. Für uns im Cockpit bedeutet diese Haltung, dass wir in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre arbeiten. Und das schafft enormen Freiraum, um konzentriert an der Sache zu arbeiten.
Wie etabliert man eine offene Fehlerkultur?
Diese Kultur kommt nicht von selbst, man muss sie wollen, aktiv gestalten und von oben vorleben. An Bord obliegt es dem Kapitän, diese Haltung vorzuleben. Bereits auf meinem ersten Flug als Co-Pilotin habe ich diese Haltung kennengelernt. Eine gute Führungskraft, ein guter Kapitän vertraut nicht nur sich selbst, sondern er glaubt ebenso sehr und uneingeschränkt an die Fähigkeiten seiner Crew. Damit gibt er den Kollegen die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Sie können dadurch innere Sicherheit erlangen und Selbstvertrauen aufbauen. Wichtig ist auch, dass die Führungskraft selbst frei und offen über eigene Fehler spricht und sich und auch den anderen die Möglichkeit gibt, daraus zu lernen. Es geht immer um Fakten und Lösungen, nie um Schuldzuweisungen.
Also ist Fehlerkultur Vertrauenskultur?
Absolut. Ohne Vertrauen keine Fehlerkultur. Vertrauen und Straffreiheit, das sind die zwei wesentlichen Elemente.
Welche Erkenntnis freut Sie am meisten?
Je freier ich mich in meiner Arbeitsumgebung bewegen kann, wir nennen das auch eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit, umso niedriger ist die Hürde, Fehler einzugestehen. Wir haben erkannt, dass wir in genau dieser Atmosphäre die besten Ergebnisse erzielen: Denn dann können wir etwas, das kein Automat und keine Maschine kann: kreative, vor allem der Situation angepasste Lösungen entwickeln. Und das ist etwas, das kann nur der Mensch. Als die Technik immer besser wurde, galt zunächst der Mensch als Bedrohung im Cockpit. Mit der Entwicklung zu einer offenen Haltung gegenüber Fehlern wird der Mensch zur Chance im Cockpit.
Sie sind viel in Hotels. Merken Sie, wenn in einem Haus eine besonders gute Fehlerkultur gepflegt wird?
Ich denke, das kann man schon am Empfang merken: Ob es Augenkontakt gibt, ob Mitarbeiter frei handeln, gerade wenn vielleicht mal irgendetwas schiefläuft. Als Gast spüre ich, wie offen und routiniert Mitarbeiter damit umgehen. Das ist für mich schon ein Indiz, wie die Kultur dahinter ist: Wie frei Mitarbeiter sind, individuelle Lösungen zu suchen. Ob sie die Verantwortung übertragen bekommen, Entscheidungen zu treffen, Alternativen anzubieten. Da kann man viel am Verhalten der Mitarbeiter ablesen.
Gibt es Parallelen zwischen der Fehlerkultur in der Luftfahrt und der im Hotel?
Beide Branchen passen insofern gut zusammen, da sich in beiden viel um Menschen dreht und dies manchmal auch sehr angespannte Situationen hervorrufen kann. Wo Dinge auch mal schnell gehen müssen, sich oft auch Situationen ändern, und wo spontan reagiert werden muss. In beiden Branchen ist die Kommunikation sicher ein Dreh- und Angelpunkt. Wie sprechen wir miteinander? Wie gehen wir miteinander um? Ich bin überzeugt, dass das auch bei den Gästen ankommt. Weil sie, glaube ich, ein ganz feines Gespür dafür haben, wie die Atmosphäre im Team ist. Das ist bei uns an Board auch nicht anders. Wir haben da zwar einen sehr engen, abgeschirmten Raum. Aber wenn wir im Team nicht funktionieren, dann spürt das jeder Passagier.
Können Sie uns erläutern, warum Kommunikation der Dreh- und Angelpunkt ist?
Ohne Kommunikation können wir überhaupt nicht zusammenarbeiten. Im Cockpit ist eine besondere Arbeitsweise gefragt. Wenn Zeit ist, um Dinge miteinander zu besprechen, ist es einfach. Aber es gibt Situationen, da muss im Team schnell entschieden werden. Deswegen trainieren wir in unseren Aus- und Fortbildungen intensiv, wie wir situationsangepasst kommunizieren. Es reicht nicht, einfach eine Information zu sagen, es geht auch darum, wie und ob sie beim Kollegen richtig angekommen ist. Erst wenn mir dieser auch bestätigt hat, dass er den Satz verstanden hat, dann ist für mich die Botschaft angekommen. Für jede Handlung gilt stets die geschlossene Feedbackschleife: Es sind immer Sender und Empfänger gleichermaßen verantwortlich, dass die Information richtig ankommt. Dies gilt auch für die Kommunikation zwischen den Piloten und der Crew in der Kabine.
Wie gehen Sie damit um, wenn es im Team hakt?
Wir suchen immer das Gespräch, und dies in einer sehr offenen, aber geschützten Atmosphäre. Wo es wirklich ganz klar darum geht zu verstehen, warum etwas so oder so geschehen ist. Kein Mitarbeiter, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit ausgeschlossen, möchte Fehler machen. Wir wollen herausfinden, wo die Ursache lag. Möglicherweise ist eine Belastung da, wer weiß? Es sind vielleicht ganz vertrauliche Dinge. Oftmals sind es aber auch einfach nur Punkte im Prozess, die nicht funktionieren. Wir haben beste Erfahrungen damit gemacht, aufrichtig und ohne zu verurteilen, gemeinsam mit dem Mitarbeiter herauszufinden, wo etwas optimiert werden kann.
Das klingt nach einer lernenden Organisation. Sie lernen also voneinander und miteinander?
Absolut, das ist sozusagen die Krönung: Wenn beide oder alle Seiten davon lernen. Und dafür braucht es Transparenz. In unserer Hochsicherheitsbranche haben wir nicht die Zeit, dass alle die gleichen Fehler einzeln machen. Wir müssen transparent sein. Wir müssen unsere Fehler quasi allen anderen auch zugänglich machen. Sodass wir nicht nur aus unseren eigenen Fehlern lernen können, sondern auch aus den Fehlern der anderen. Und das machen wir sehr offensiv. Wir publizieren unsere Fehler strukturiert an alle unsere Kollegen. Wir haben eine Plattform geschaffen, von anderen Fehlern zu lernen.
Haben Sie ein Beispiel für ein solches Lernen?
Besonders erinnere ich mich an meinen allerersten Flug: Der Kapitän vertraute mir von Anfang an und übertrug mir Verantwortung. Er schuf eine Atmosphäre, in der ich meine eigenen Erfahrungen und auch Fehler machen konnte. Ein sensationelles Gefühl! Als er dann auch noch offen gestand, dass er sich versehentlich die falschen Karten für den Abflug herausgelegt hatte, war ich wirklich beeindruckt. Er hat mir für den Hinweis gedankt, die Karte wurde getauscht, und weiter ging’s!